Neue Veröffentlichung zu den „Gestalten der Faschisierung“ Rechtspopulismus – der Anwalt der kleinen Leute?

Politik

In Deutschland hat die niedersächsische Landtagswahl vom Oktober 2022 mal wieder Stoff geliefert, um das rechte Lager als die Kraft zu identifizieren, die den soziale Protest betreut.

AfD-Stand in Mödlareuth.
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AfD-Stand in Mödlareuth. Foto: PantheraLeo1359531 (CC BY 4.0 cropped)

13. Oktober 2022
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Der legendäre kleine Mann, der stets verlor und nie gewann (wie der Sänger singt), hat jetzt also jemand gefunden, der sich wirklich um ihn kümmert? Fühlt er sich hier nun endlich (mit seiner kleinen Frau) ernst genommen – statt bei einer Linkspartei, die, mit internen Querelen und Lifestyle-Fragen befasst, ihm nichts zu bieten hat?

„In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land. Sie hat die soziale Frage gekapert. Dabei hat sie überhaupt keine Antwort,“ stellte taz-Journalist Erik Peters im Blick auf die letzten Proteste fest, zu denen die AfD etwa in Berlin oder in den neuen Bundesländern mobilisierte, und Peter Nowak kommentierte bei Telepolis zustimmend diese „Zustandsbeschreibung“. „Die Protestierenden in fünfstelliger Zahl“ hätten eigentlich bei der Linken auflaufen müssen, seien aber dort nicht „zu finden gewesen, sondern bei der AfD. Es gibt objektive Gründe im Spätkapitalismus, die zu einer massiven Schwächung der gesellschaftlichen Linken weltweit führte[n]. Hier liegt auch der Grund, dass von einer Proteststimmung die Rechten profitieren.“

Dass dieser Zulauf mit sozialen Notlagen zu tun haben könnte, lassen auch die Leitmedien in gewissem Rahmen gelten. Dabei wird natürlich den Rechten schwerster Missbrauch ehrenwerter Anliegen vorgeworfen. Die FAZ (10.10.22) kreidet z.B. der AfD an, dass sie „Profiteur der Energiekrise“ ist, „die Frustrierte an die Wahlurne treibt“, und legt, tiefer bohrend, gleich damit nach, die populistische Partei wisse sich eben „um die, denen es nur um Protest geht, zu kümmern“. So ist auch mal wieder der Topos vom populistisch angereizten „Wutbürger“, der eigentlich grundlos, aus einer affektiven Verklemmung heraus, gegen „die da oben“ anstinkt, in Umlauf gebracht.

Linker Protest von rechts?

Was stimmt: Die AfD protestiert gegen den aktuellen Kurs der Bundesregierung. Sie ist die einzige parlamentarische Kraft, die in Opposition zum NATO-Kurs der BRD-Regierung geht. Sie macht natürlich die obligatorische Verurteilung Russlands mit (siehe das „Positionspapier der AfD-Bundestagsfraktion zum Russland-Ukraine-Krieg“), apropos „völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands, den wir scharf verurteilen“. Dass Deutschland als europäische Führungsmacht, als Aufsichtsmacht über globale Konflikte, befugt ist, in Gewaltaffären Recht zu- und abzusprechen, leuchtet der AfD selbstverständlich ein. Sie entwickelt das sogar weiter – mit einem Moment von nationalem Grössenwahn – zur Rolle des Vermittlers, der zwischen, ja über den streitenden Parteien im Ukrainekrieg zur Regelung weltpolitischer Affären schreiten soll. Bismarcks Kalauer vom „ehrlichen Makler“ lässt grüssen! Und Bismarck mit seinem geradlinigen preussischen Militarismus ist ja auch ein expliziter Bezugspunkt der AfD, wenn sie sich etwa im Deutschen Bundestag zu aussen- und sicherheitspolitischen Fragen äussert.

Aber trotzdem hat die Partei was gegen diesen Krieg und gegen die Kosten, die er der Nation aufbürdet: Hier ist „nicht der Krieg, sondern sein unzureichender Ertrag für die deutsche Sache, welche auch immer, das Problem“, wie der Gegenstandpunkt formulierte. So kann die AfD sich auch mit lautem Protest für wirkliche Inflationsbekämpfung und solide Haushaltsführung zu Wort melden und auf vielfältige Nöte der Bürgerschaft hinweisen.

Das muss man konstatieren, wobei aber in einem grundsätzlichen Punkt Klarheit herrschen sollte: Die AfD hat weder die soziale Frage „gekapert“, sie also anderen entwendet und für sich vereinnahmt, noch ist ihr Manko, dass sie überhaupt keine Antworten auf die drängenden Zeitfragen anzubieten hätte. Was sich hier zu Wort meldet, ist ein rechtsradikales Programm, das mit seinen eigenen Inhalten in der demokratischen Parteienkonkurrenz antritt, Gemeinsamkeiten mit dem konservativen Lager aufweist und sich von der Linken entschieden abgrenzt. Dabei ist ebenfalls zu konzedieren, dass es in der deutschen Linkspartei – siehe Sahra Wagenknecht – Positionen gibt, die nationale Erfolgsmassstäbe und -wege attraktiv finden und hier auf ihre Art Anschluss suchen. Aktuell liegt dazu ein Beitrag über „Wagenknechts Abrechnung mit den Linken“ vor, der im Gegenstandpunkt Nr. 3/22 erschienen ist.

Nähere Auskunft darüber gibt auch die Reihe „Gestalten der Faschisierung“, die im Untergrund-Blättle bereits vorgestellt wurde und in der eine Kritik der prominenten Linkspolitikerin Wagenknecht veröffentlicht wurde. In der Reihe ist jetzt ein neuer Band erschienen, der sich mit Björn Höcke befasst, dem AfD-Fraktionsvorsitzenden im Thüringer Landtag und Gründer des einflussreichen „Flügels“ der Partei, der 2020 nominell aufgelöst wurde.

„Deutsche Arbeit & preussischer Staat“

Wolfgang Veiglhuber hat in dem von ihm mit herausgegebenen Band den Hauptbeitrag geschrieben. Er steht unter dem Titel „Volksgemeinschaft und ‚solidarischer Patriotismus': Der Nutzen der Lohnarbeit für das Vaterland“ und handelt vier Themenblöcke ab, die im Blick auf Wirtschaft und Soziales die Programmatik des Rechtspopulismus ausmachen: Kapitalismusbegriff, Verhältnis von Staat und Ökonomie, Volk und Staat sowie Sozialpolitik. Der Durchgang durch diese Programmpunkte orientiert sich an den Schriften und Reden Höckes, der als radikaler Flügelmann seiner Partei gilt. Veiglhuber ordnet dies aber ins Gesamtbild der AfD ein und zeigt, dass hier kein extremistischer Aussenseiter agiert, sondern nur in provokativer Form die nationalen Konsequenzen aus der Verteidigung der schwarzrotgoldenen Marktwirtschaft gezogen werden, wie sie überhaupt bei den Alternativdeutschen und auch bei anderen Parteigängern dieser Wirtschaftsweise üblich ist.

Speziell zeigen sich hier zwei Punkte:

Höcke kennt – im Einklang mit seiner Partei – keine soziale Frage, sondern nur eine nationale. Die Volksgemeinschaft ist das Sorgeobjekt; sie gilt es, gegen innere Verfallserscheinungen und auswärtige Bedrohungen zu verteidigen. „Solidarität“ – das neue Schlagwort für Opfer- und Verzichtsbereitschaft – wird dafür, dem demokratischen Brauch folgend, adaptiert und als Attribut dem Patriotismus zugeordnet. Die vorstaatliche, völkische oder blutsmässige Identität eines in seiner Heimat verhafteten Menschenhaufens, der sich über den Fortpflanzungstrieb von Vati und Mutti beständig reproduziert, ist der Ausgangspunkt der Sorge. Wenn hier soziale Nöte zu entdecken sind, werden sie aufgegriffen und gegen (angebliche) Nutzniesser oder Anstifter aus dem Ausland zum Anliegen eines nationalen Kraftakts gemacht. Dann muss z.B. unsere soziale Marktwirtschaft gegen einen Kapitalismus verteidigt werden, der mit der Globalisierung zu uns herüberschwappt, sich dabei durch einen „raffenden“ Charakter auszeichnet und unsere „Realwirtschaft“ in eine Art „Zinsknechtschaft“ nehmen will. Dann muss z.B. der „Verantwortungsraum“ (Höcke) unserer Solidargemeinschaft eingegrenzt, d.h. die migrantische Population vom Leistungsbezug bei den Sozialkassen ausgegrenzt werden.

Es stimmt also auch nicht, was bereits die letztgenannten Beispiele deutlich machen, dass die Partei „überhaupt keine Antwort“ anzubieten hätte, wie mit den Missständen im Lande umzugehen wäre. Von der Notwendigkeit einer bundesweiten Inflationsbekämpfung bis zur Aufhebung des baden-württembergischen Nachtangelverbots kann sie mit tausend guten Vorschlägen aufwarten. Veiglhuber geht dem Sammelsurium von ordnungs-, wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepten nach, das sich, wie bei demokratischen Parteien üblich, gar nicht gross um Konsistenz zu bemühen braucht. Hauptsache, man dokumentiert die eigene (potenzielle) Tatkraft! Und wenn man die grundsätzliche Linie wissen will, der sich die vielen guten Ideen verdanken, ist die Partei überhaupt nicht um eine Antwort verlegen: Es geht ihr um die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit im Lande. Höcke z.B. will einen grundlegenden sittlich-moralischen Wandel – weg von einem „dekadenten westlichen Lebensstil“.

Wem das als Parteiprofil zu wenig oder zu allgemein ist, der sollte sich daran erinnern, dass auch ein Kanzler Kohl einmal mit dem Programm antrat, dem Land eine „geistig-moralische Wende“ zu verordnen. Bei Höcke wird die Erneuerung der nationalen Sittlichkeit richtig brutal ausbuchstabiert – mit ihren antimaterialistischen Konsequenzen und ihrer Propaganda einer „bodenständigen Bescheidenheit“: „Unsere ‚Klage um Deutschland' dreht sich nicht primär darum, dass der Wohlstand zurückgeht, sondern vor allem darum, dass unser Volk seine Seele und Heimat verliert“. Höcke „will keine neue Armut herbeisehnen, aber etwas mehr Bescheidenheit und Orientierung an immateriellen Werten wären heilsam für uns.“

Veiglhuber fasst zusammen: „Moral, Sittlichkeit und Bescheidenheit statt eines guten Lebens für alle. Höcke legt ein völkisch-nationalistisches Wertetableau vor, in dem die Lohnabhängigen unter Hintanstellung der eigenen materiellen Interessen als Dienstkräfte von Volk und Vaterland fungieren sollen, eine nahezu klassische faschistische Perspektive.“ In diesem Resümee darf man allerdings das Wörtchen „nahezu“ nicht überlesen. Natürlich ist in Höckes Äusserungen allenthalben eine gewisse Nähe zur NS-Vergangenheit zu erkennen – zur Deutschen Arbeitsfront, zur Idee einer organischen Marktwirtschaft, zum NS-Winterhilfswerk, zur Verteufelung der „globalen Geldeliten“ (Höcke), zur Anklage vielfältiger Dekadenzerscheinungen.

Aber damit ist die Sache nicht erledigt. Eine Nähe besteht genauso zur Verteidigung unserer – über alle Kritik erhabenen – Idee einer Soziale Marktwirtschaft, wie sie in den demokratischen Parteien anzutreffen ist; und wo nur noch der Einwand zugelassen ist, dass sich die wirtschaftliche Praxis nicht ganz auf der Höhe dieser hehren Idee bewegt, was auch bei Demokraten durchaus mit der Schuldzuweisung an auswärtige Kräfte verbunden werden kann, die den Anstrengungen deutscher Politiker zuwiderlaufen. Veiglhuber kommt immer wieder auf solche Übereinstimmungen zu sprechen, widmet dem strukturellen Zusammenhang auch ein ganzes Kapitel. Und er hält bei Gelegenheit fest, dass die Äusserungen des Scharfmachers Höcke gar nicht apart rechts sind, sondern schlichtweg deutsche „Staatsideologie“.

Johannes Schillo

Reihe „gestalten der faschisierung“. Hamburg, Argument-Verlag (argument.de).

Nr. 1: Klaus Weber (Hg.), Sloterdijk – aristokratisches Mittelmaß & zynische Dekadenz. 2021, 175 S.

Nr. 2: Wolfgang Veiglhuber/Klaus Weber (Hg.), Wagenknecht – nationale Sitten & Schicksalsgemeinschaft. 2022, 285 S.

Nr. 3: Wolfgang Veiglhuber/Klaus Weber (Hg.), Höcke I – deutsche Arbeit & preußischer Staat. 2022, 139 S.